Heilsgeschichte in leuchtenden Farben
Schanfigger Momentaufnahmen». Heute im Porträt: Sidonia Kasper
Sidonia Kasper taucht in Lüen ein in die faszinierende Bilderwelt des Waltensburger Meisters
Unscheinbar und bescheiden wirkt sie von aussen, die Dorfkirche von Lüen. Doch tritt man in das Gotteshaus, ist man überwältigt. Eine Bilderbibel in leuchtenden Farben schmückt grosse Teile des Kirchleins. Wer hat sie gemalt? Welche Geschichten werden darin erzählt? Und wie kommt eine kleine Kirche im Schanfigg zu einem solchen Schatz? Wer Antworten auf diese Fragen möchte, schliesst sich am besten einer Kirchenführung mit Sidonia Kasper an. Zweimal finden diese im Sommerhalbjahr statt – die Nächste ist am morgigen Samstag.
Sidonia Kasper ist begeistert von Kirchen. Wenn sie auf Reisen oder Ausflügen ist, dann kommt sie an kaum einer vorbei, ohne wenigstens kurz hineinzuschauen. So fühlte sie sich auch spontan angesprochen, als die Evangelisch-Reformierte Landeskirche 2014 einen Kurs für Kirchenführungen ausgeschrieben hat. Ursprünglich Hauswirtschaftslehrerin wirkte sie später als Katechetin bei der Landeskirche. «Auch dadurch habe ich natürlich schon einen Bezug zu Kirchen gehabt.»
Ein Schwerpunkt in ihrer Ausbildung zum Kirchenführer war der Waltensburger Meister – so genannt nach seinem Hauptwerk in der Reformierten Kirche von Waltensburg in der Surselva. Dass Sidonia Kasper diesen Schwerpunkt gesetzt hat, war kein Zufall, denn vor 50 Jahren wurden sie und ihr Mann in der Kirche von Clugin im Schams getraut. Das Kircheninnere ist geschmückt mit Wandmalereien des Waltensburger Meisters. Nach der Ausbildung wurde sie von Via Mala Tourismus angefragt für Kirchenführungen in Clugin und in Dusch, wo ebenfalls Malereien des Meisters zu sehen sind. Auch in Waltensburg selbst hat Sidonia Kasper schon Führungen gemacht. Dann wurde sie von der damaligen Kulturfachstellenleiterin Erika Holenweger angesprochen, ob sie nicht Interesse daran hätte, Führungen in der Dorfkirche von Lüen zu übernehmen. «Und seither mache ich das.»
Doch was fasziniert so sehr an diesem Waltensburger Meister, dessen wirklichen Namen wir genauso wenig kennen, wie wir mit Sicherheit sagen können, woher er denn stammt? Doch er spricht zu uns durch seine Kunst, und das ist es auch, was Sidonia Kasper begeistert: «Die Fresken sind 700 Jahre alt und noch immer wunderschön.» Dass die Bilder in Lüen noch so leuchten, ja, überhaupt so gut erhalten sind, hat dabei kurioserweise damit zu tun, dass sie in der Reformation übermalt und erst 1926 wieder freigelegt wurden.
Doch es ist nicht nur der gute Erhaltungszustand. Dazu kommt für Sidonia Kasper «der Ausdruck der Figuren. Jede Person, die er dargestellt hat, hat eine eigene Ausstrahlung, eine Botschaft». Erstaunlich ist auch die Technik des Waltensburger Meisters: Er hat «Affresco» gemalt, «ins Frische». Dabei werden die Farben auf den noch feuchten Kalkgrund aufgebracht und nicht, was wesentlich einfacher ist, auf trockenen Putz. Denn die Farbe kann eben nur aufgetragen werden, solange der Putz feucht ist. Dafür strahlen Fresken in leuchtenden Farben – ein schönes Beispiel dafür ist die Dorfkirche von Lüen.
Ihre Begeisterung für den Waltensburger Meister möchte Sidonia Kasper den Menschen bei ihren Führungen näher bringen, «dass sie anders aus der Kirche herausgehen, als sie hineingegangen sind». Neben den Merkmalen, die praktisch allen Wirkungsorten des Waltensburger Meisters gemeinsam sind, stechen in Lüen einige Motive heraus. Darunter ist ein besonders drastisches Motiv: der Kindermord von Bethlehem, wie er im Matthäusevangelium erzählt wird. «Das ist sehr selten dargestellt», sagt Sidonia Kasper. Das trifft auch auf ein zweites Motiv zu: die heilige Maria im Wochenbett, nach byzantinischer Art. Klassisch ist die Taufe Jesu in Lüen als Motiv, ebenso die Passionsgeschichte. Dagegen fehlt ein traditionelles Motiv, das in Bündner Kirchen häufig zu sehen ist: Christus in der Mandorla – doch im kleinen Kirchlein von Lüen gibt es eben keinen Chor, wo man diese Darstellung sonst in der Regel findet … Für die Menschen der damaligen Zeit, die in der Regel weder lesen noch schreiben konnte, dienten Darstellung wie in Lüen als «Bilderbibel».
Ihre Führungen beginnt Sidonia Kasper vor der Kirche, um zu zeigen, wie das Gotteshaus in der Landschaft steht, nach Osten ausgerichtet. «Dann geht man hinein, vom Dunkel in das Licht.» In der Kirche selbst sind die Fresken natürlich das Hauptthema, aber es geht auch ganz allgemein um die Geschichte von Lüen. Ursprünglich rätoromanisch besiedelt, waren die Lüener freie Bauern. Ihre Kirche schenkten sie 1084 dem Churer Bischof – ob er, andere Adlige oder auch die Lüener selbst die Fresken in Auftrag gaben, wir wissen es nicht.
Und natürlich geht es bei der Führung um den Waltensburger Meister. Nichts Genaues weiss man nicht, möchte man über ihn fast sagen. Aber ein bisschen etwas kann man zumindest vermuten: Fest steht, dass er in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts in Graubünden gewirkt hat. Stilistische Untersuchungen lassen den Schluss zu, dass er wohl aus dem Bodenseeraum stammt. Seine Apostel malte er gern mit Locken – wie jene, die als «Konstanzer Hufeisenlocke» in die Kunstgeschichte eingegangen ist.
Insgesamt hat der Waltensburger Meister in rund 20 Kirchen und in zwei Schlössern hinterlassen. Wer ihm und seiner Kunst näher kommen möchte, sollte unbedingt einmal eine Führung mit Sidonia Kasper in Lüen machen. Empfehlenswert ist selbstverständlich auch ein Besuch im Museum Waltensburger Meister in Waltensburg/Vuorz.
Sidonia Kasper ist bereit für ihre nächste Führung in Lüen am morgigen Samstag: «Ich habe immer Freude daran, auch an den Begegnungen mit den Menschen», erzählt sie. Und wenn man sieht, wie ihre Augen leuchten, wenn sie von ihrer Begeisterung für die kirchliche Kunst erzählt, dann glaubt man ihr das aufs Wort! Neben den beiden Führungen im Sommerhalbjahr sind übrigens auch Gruppen auf Voranmeldung herzlich willkommen.